Bekannt durch die ‚Knilch-Bücher‘ seines Adoptiv-Vaters in den sechziger, siebziger Jahren schreibt der Knilch selbst über sein Leben als Adoptiv-Kind, geprägt von Erziehung, Kirche, Gesellschaft.
Mit seinen jetzt siebzig Jahren erzählt er über seine Prägungen in Kindheit und Jugendzeit sowie ihre Auswirkungen auf berufliche wie gesellschaftspolitische Aktivitäten:
Einfach aus dem ‚Bauch heraus‘, ungeschminkt, authentisch, ohne den Anspruch von Wissenschaft-lichkeit, wissend, mit seinen Methoden anstößig und damit angreifbar zu sein.
»Immer Ja-Sagen! Weder Hausarrest, Fernsehverbot oder unsinnige Strafen, stattdessen kreative Interaktionen!«
Beispiele seiner unkonventionellen Pädagogik als Sozialpädagoge im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen machen neugierig, nachdenklich und ermutigen diejenigen, die sich als Pflege- oder Adoptiv-Eltern auf ein Leben mit fremden Kindern einlassen.
Schreib‘ darüber
So, wenn es Ihnen recht ist, lassen wir den Jungen hereinkommen?
Mir schlug das Herz bis hinauf in den Adamsapfel. Meine Frau wurde blass. Die Tür ging auf, und ein strubbeliger Junge kam herein. Und wie! – so mit Siebenmeilenschritten. Er sah nicht links, nicht rechts, sprach keinen Ton, stieg wortlos neben dem Schreibtisch des Pflegers auf einen Stuhl, nahm den dicksten Stempel und haute ihn krach-bum aufs Stempelkissen. Dann, ohne sich zu besinnen und ohne zu bremsen, stempelte er ruck-zuck-krach-bum sämtliche Papiere, die in seiner Reichweite lagen.
Das war unser Sohn!
Meine Frau sah, dass ich ihn und sein emsiges Tun kritisch betrachtete. »Überlegst du noch, ob wir ihn nehmen? Man sucht sich seine Kinder nicht aus!« Das war richtig, und ich schämte mich. Zwar hatte der Pfleger gesagt: »Wenn Sie mit ihm nicht zurechtkommen, können Sie ihn jederzeit zurück bringen«. Denn meine Frau hatte Recht: Man kann sein Kind nicht wieder zurückgeben! Man tauscht sein Kind nicht einfach um!
(Aus: "Der Knilch und sein Schwesterchen", Hansjürgen Weidlich)
„Diese Passage hat mich seinerzeit bewogen, weiter zu lesen“, erklärt Frau Ditte, mich taxierend. „Erco und ich standen an den Bettchen unserer beiden Töchter“, ergänzt sie, „beide ein halbes Jahr alt. Vor zwanzig Jahren. Es war wie ein Wunder. Sie waren drei Tage bei uns. Unsere Kinder, Adoptivkinder! Ich weiß den Tag genau, als ich, Zufall oder nicht, in das Bücher-Regal meines Vaters griff und diesen Doppelband entdeckte. Seit diesem Tag begleitet uns die Geschichte des Knilchs. Es wäre ein großes Erlebnis, hofften wir vor einer Woche, diesen Knilch kennen zu lernen! Deswegen sind wir hier.“
Beide prüften in den folgenden Stunden, ob der leibhaftige „Knilch“ ihr literarisches Bild trüben würde oder nicht. Ich spürte ihr Abtasten emotional, das für erste Sekunden verunsicherte, nach wenigen Minuten einer beidseitigen Empathie wich.
Sie, Kinder- und Jugendfotografin, mit wachen Augen ihre Umwelt betrachtend, er, Historiker, alle Ereignisse einem geschichtlichen Kontext zuordnend, sitzen mir gegenüber, bei Kaffee und Plätzchen.
Beide, beseelt von ihren Erfahrungen mit ihren Töchtern, schildern ihr Leben in Kurzfassung, mit glänzenden Augen.
Ditte selbst konnte keine Kinder gebären. Ihr sehnsüchtiger Wunsch, Kinder aufwachsen zu sehen, ihnen Geborgenheit und Liebe zu schenken, verdrängte nachdenkliche Fragen besorgter Freunde. Sie tat es, wie Mütter eben, in liebevoller Hingabe, mit klugem Verstand.
Erco, ebenfalls ein Adoptivkind, sprach von seiner diffusen Angst, eine tiefe, tragbare Beziehung zu diesen neuen Wesen entwickeln zu können. Würde von ihm nicht mehr als eine Beziehung erwartet, vielleicht eine tiefgreifende Bindung, eine aufopfernde Haltung, die Vätern leiblicher Kinder unterstellt wird? Er selbst wurde weggegeben, das Band des Urvertrauens zerschnitten. An Liebe und Geborgenheit während der ersten sechs Jahre konnte er sich nicht erinnern. Später musste er die Zuneigung seiner Adoptiveltern mit anderen Kindern teilen. Das prägte und sorgte für latente Zweifel an sich selbst und an anderen. Ins Detail mochte er nicht gehen, über ein Schicksal, das viele Adoptivkinder teilen.
Stattdessen fokussierte er zwei ihm wichtige Fragen: „Konnte das Engagement Ihrer Adoptiv-Eltern Ihnen das Gefühl vermitteln, als Mensch wieder wertvoll zu sein?“ Und: „Wie hat die Adoption Ihr weiteres Leben als ‚Knilch‘ geprägt?“
Mit meinen jetzt siebzig Jahren erzähle ich über Prägungen in Kindheit und Jugendzeit und ihre Auswirkungen auf berufliche wie gesellschaftspolitische Aktivitäten.
Die Beispiele meiner unkonventionellen Pädagogik als Sozialpädagoge im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen fesseln beide Zuhörer.
Sie hören zu, eine Kunst, die selten zu beobachten ist.
Nach mindestens fünfzehn Tassen Kaffee, einer mittelgroßen Pizza für jeden und Plätzchen wie Toffifees verabschieden sie sich nach elf Stunden intensivster Gespräche, wir duzen uns bereits, mit den Worten: „Schreib‘ darüber!“
Und ich fange an…
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