ES   Ich/Es/Überich

Sigmund Freud Special

Das psychische Dreieck: Ich, Es, Über-Ich.

Die Entdeckung des »Dunklen Kontinents«

Der folgende Artikel stammt aus P.M. Magazin

  

"Nichts hat den Blick auf uns selbst so radikal verändert wie die Lehre Freuds. Er hat in unserer Innenwelt eine bisher kaum bekannte Dimension entdeckt, die sich mit Impulsen, Träumen und Ängsten meldet und auf rätselhafte Weise unser Leben zu lenken scheint. Hatte der Seelenforscher Recht? Wissen wir wirklich nicht, was wir tun? Was sagt die moderne Forschung zur Macht des Unbewussten?

 

Es ist kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als Sigmund Freud in der Wiener Berggasse 19 ein neues Menschenbild entwirft. Das »Ich«, nach gängiger Vorstellung ein Alleinherrscher im Haus der Seele, wird nicht nur rigoros entthront. Der Wiener Psycho-Pionier quartiert auch noch zwei mächtige »Mitbewohner« ein. »Es« und »Über-Ich« nennt er die beiden Unruhestifter, die dem »Ich« das Leben schwer machen.

Im Bild vom Seelenhaus hat das »Es« das ganze Kellergeschoss belegt. Auf seinem Klingelschild steht: »Das Unbewusste«; in Klammern ist vielleicht noch die Warnung »Vorsicht! Triebe!« zu lesen. Das »Über-Ich« residiert in diesem Modell unterm Dach in einer hellen Maisonette-Wohnung; über der Eingangstür prangt in Schmuckschrift: »Das Gewissen«; in die Fußmatte könnte noch »Das Gute, das Wahre, das Schöne« gestickt sein.

Das »Ich« schließlich, das nach Ansicht der meisten Menschen identisch mit ihrer Persönlichkeit ist, lebt eher bescheiden auf der mittleren Etage in sehr hellhörigen Räumen; von oben und unten dringen die Stimmen seiner beiden Mitbewohner durch die dünnen Wände, Tag und Nacht, ohne Unterlass.

Sigmund Freud, ein erfahrener Seelen-Voyeur, hat Einblick in alle drei Psycho-Etagen. Als er 1923 seine in jahrelanger Therapiearbeit erworbenen Erkenntnisse in dem Aufsatz »Das Ich und das Es« veröffentlicht, erntet er in Fachkreisen wenig Zustimmung und viel Kritik. Der Text provoziert vor allem die Rationalisten unter seinen Kollegen. Es ist das »Es«, das Anstoß erregt. Die Vorstellung, dass dieses undurchsichtige Kellerkind den Verstand manipulieren oder gar beherrschen könnte, peinigt die Fetischisten der Vernunft doch sehr.

Das »Es« ist die aufregendste, aber auch geheimnisvollste Instanz in dem heiklen Dreiecks-verhältnis der Psyche. Das »Ich« und das »Über-Ich« bilden sich im Laufe der ersten Lebensjahre – das »Es« aber begleitet den Menschen von Geburt an. Es repräsentiert die Erbanlagen und elementaren Triebe eines Menschen, es will essen, trinken, ausscheiden, es verlangt nach Wärme, Zuneigung und sexueller Befriedigung. Im Lauf der Lebensjahre sammeln sich im Kellergeschoss des »Es« auch alle verdrängten Gefühle an.

»Es« ist ein Tyrann, der sich dem Bewusstsein entzieht, sich weder um Moral noch Vernunft kümmert, keine Vorschriften kennt und keinen Befehlen gehorcht. »Es« will immer nur das eine: die direkte Befriedigung seiner Bedürfnisse. Die alles beherrschenden Triebenergien werden von Freud mit den lateinischen Namen »Libido« (sexuelle Energie) und »Destrudo« (Zerstörungstrieb) etikettiert.

Glücklicherweise hat das »Es« einen starken Gegenspieler: das »Über-Ich«. Diese psychische Instanz repräsentiert die Wertvorstellungen und Normen, Ideal-vorstellungen und moralischen Prinzipien, die von frühkindlicher Entwicklung an erworben werden; das »Über-Ich« beobachtet und unterstützt das »Ich« bei der Auseinandersetzung mit impulsiven »Es«-Attacken.

Das »Über-Ich« bildet sich meistens zunächst im Spannungsfeld der Familie. Schon als Kleinkind erfährt der Mensch, dass sein Verhalten von der Außenwelt bewertet wird. So bereitet es den Eltern beispielsweise mehr Freude, wenn man den Brei brav schluckt, anstatt ihn sich in die Haare zu schmieren. Das Kind, von seinen Eltern mit einem System aus Strafen und Belohnungen konfrontiert, schlägt sich schon bald auf die Seite der Stärkeren (also der Eltern) und übernimmt deren Wertvorstellungen und Normen. Später verinnerlicht das »Über-Ich« auch noch gesellschaftliche Regeln. Laut Sigmund Freud hat es direkten Einfluss auf das »Ich« – »es beobachtet das Ich, gibt ihm Befehle, richtet es und droht ihm mit Strafen, ganz wie die Eltern, deren Stelle es eingenommen hat.«

Keine Angst vor Freud. Das Dreiecksverhältnis »Es – Ich – Über-Ich« funktioniert zwar in der Praxis sehr komplex. Aber mit einer Beispiel-Skizze lassen sich die wichtigsten Konturen des Kräftespiels gut umreißen:

Herr F. ist auf der Autobahn unterwegs. Er will möglichst schnell nach Hause, um nicht die Fernsehübertragung eines spannenden Fußballspiels zu verpassen. Zunächst kommt er gut voran. Doch dann fährt vor ihm ein Typ im Schneckentempo permanent auf der linken Spur. Das »Es« von Herrn F. reagiert sofort: Es initiiert die Ausschüttung von Stresshormonen und setzt gleichzeitig das »Ich« via Aggressionstrieb unter Druck. F. handelt wie unter Zwang: Er orgelt mit der Lichthupe, fährt dicht auf, gestikuliert wild mit den Armen, schimpft und flucht.

Dann aber meldet sich – hoffentlich – das »Über-Ich«. Es konfrontiert das »Ich« mit den möglichen Folgen des aggressiven Verhaltens: schwerer Unfall, Strafpunkte in Flensburg, vielleicht sogar Führerschein-Entzug. Sollte Herr F. zu einer moralischen Minderheit gehören, kann das »Über-Ich« ihn sogar überreden, sich in die psychische Lage des gefährlich bedrängten Vordermanns zu versetzen. Dann wird das »Ich« von Herr F. auf das »Über-Ich« hören und den Fuß vom Gaspedal nehmen; das »Es« beruhigt sich, die moralische Instanz hat obsiegt.

»Es« und »Über-Ich« sind zwei Kräfte, die fast ständig in Machtkämpfe verstrickt sind. Beide kümmern sich nicht um das real existierende Leben, sie wollen stets nur ihre jeweiligen Programme durchsetzen. Das »Ich« aber steht als Realist zwischen den Fronten, bemüht sich, zwischen den Kontrahenten zu vermitteln, und verbindet die Psyche mit der Außenwelt (Realität, Gesellschaft).

1923 beschreibt Sigmund Freud, sonst eher kühler Diagnostiker, die vielfältigen Strapazen des »Ich« nicht ohne Mitgefühl: »Das arme Ich dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die Außenwelt, das Über-Ich und das Es. Wenn das Ich seine Schwäche einbekennen muss, bricht es in Angst aus, Realangst vor der Außenwelt, Gewissensangst vor dem Über-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es.«

Viele Freud-Kollegen waren schockiert über die Entmachtung des Ego. Eine verständliche Reaktion – hat doch das »Ich« den abendländischen Menschen durch viele Jahrhunderte mentale Sicherheit und Selbstbewusstsein gegeben. Mit der Inschrift »Erkenne dich selbst« am Apollon-Tempel in Delphi (373 v. Chr. erbaut) erhielt das »Ich« früh die Lizenz zum schöpferischen Denken, und zwar von den Göttern höchstpersönlich. Für den mittelalterlichen Kirchenvater Augustinus (354 – 430) war das »Ich« identisch mit der Seele. Und als der französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650) stolz postulierte, »Ich denke, also bin ich«, war von »Es« und »Über-Ich« noch nicht die Rede.

Noch zu Freuds Lebzeiten kämpfte eine starke Opposition gegen die Degradierung des »Ich«. Besonders stark bedrängt wurde der Wiener Therapeut von seinem früheren Schüler und Freund Alfred Adler (1870 – 1937).

Der Begründer der »Individualpsychologie« setzte das »Ich« prompt wieder auf den Thron. Adler apodiktisch: »Was Freud als das Unbewusste beschreibt, ist doch immer wieder das Ich.«

Bis in die 1980er Jahre wurde das von Sigmund Freud entworfene Psycho-Modell von Naturwissenschaftlern als angestaubter Irrtum abgetan. Doch dann brachten Forschungsergebnisse der modernen Neurobiologie das »Es« erneut an die Macht.

Gerhard Roth, Gehirnforscher an der Universität Bremen, ist der Überzeugung, »dass das Ich selbst nichts tut, sondern ein Werkzeug ist für das Unbewusste, komplexe Situationen besser zu meistern«.

Weiter: »Freud hatte im Wesentlichen Recht, und zwar in zweierlei Hinsicht: dass das Unbewusste weitgehend das Bewusstsein beherrscht und dass das Unbewusste sich vor dem Bewusstsein entwickelt.«

Sigmund Freud ist wieder hochaktuell, auch im Hinblick auf das »Es« der Hassprediger in allen politischen und religiösen Lagern. 1930 schrieb der Seelenforscher und Menschenkenner hellsichtig: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.«

 


 

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P.Weidlich