Neujahrsnacht

Alex und Kati

 

Das Sturmtief mit milder und feuchter Luft war über Nordeuropa ostwärts gezogen und hatte bei Esselmanns nur drei hohe Edeltannen umgeknickt, die einen Teil vom Lattenzaun zum Hang hin niederdrückten.

„So kann man wenigstens wieder sehen, was im unteren Dorf und in weiter Ferne so los ist“, lockerte Kati die Spannung zwischen ihnen.

Sie lehnten sich in dieser Neujahrsnacht über den stehengebliebenen Zaun, mit langen Regenjacken gegen den feinen Nieselregen gewappnet, und schickten eine einzige Rakete mit geheimen Wünschen in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Die mit Orangensaft und Mineralwasser gefüllten ehemaligen Senfgläser klangen dumpf, als sie sich beim Zuprosten berührten. Sie wünschten sich ein gesundes Jahr, blickten sich intensiver als sonst in die Augen und redeten und redeten…

 

Alex schwärmte vom Mathelehrer Prange, der in den unteren Klassen den Lehrerjoker eingeführt hatte und deshalb besonders hohes Ansehen bei den Schülern genoss. „Seine Art hat mir damals die Angst vor Mathe genommen“, versicherte er. 

Als Kati ihn fragend ansah, schilderte er eine Begebenheit, die ihn als Schüler in Klasse 6 so nachhaltig beeindruckt und über die er einen Aufsatz in Klasse 9 als Hausaufgabe geschrieben hatte. Während Alex diese Geschichte in Kurzfassung erzählte, beobachtete er Katis Reaktionen.

Sie hört mir genau zu, jubelte er innerlich. Und toll sieht sie aus mit ihrer Kapuze über dem blonden Haar und ihren roten Wangen, dachte er. Beim letzten Satz wischte sie einen vermeintlichen Regentropfen von ihrer Wange und bat ihn leise, ihr seinen Aufsatz „Lehrerjoker“ zuzumailen, sobald er wieder daheim sei.

Um ihre Rührung zu überspielen, lästerte sie über einige total überdrehte Klassenkameradinnen, die mit älteren Schülerinnen und sogar einigen Müttern solche neuerdings angesagten „Auspackpartys“ veranstalten würden. „Die bestellen im Internet alle möglichen Marken-Klamotten und Dessous und High Heels bei Online-Händlern. Sie treffen sich zu Hause zum Anprobieren und Tauschen, machen Fotos fürs soziale Netzwerk. Dann ziehen sie sich einen Joint rein, lachen sich über alles halb schlapp und schicken alles wieder retour, dank portofreiem Versand." Sie tippte sich ereifernd an die Stirn. „Ich finde das hirnrissig krank. Da mache ich nicht mit.Also will man nichts von mir wissen. Ich bin tot für die. Das grenzt fast an Mobbing“, seufzte sie.

Alex legte seinen Arm um sie, so, als wollte er sie beschützen oder trösten. Sie schwiegen eine Weile. Er atmete ihre Nähe ein. Sie duftet so gut, registrierte er aufatmend.

„Schlimmer treiben sie es mit Aisha, der Kopftuchträgerin“, fuhr Kati fort. „Sie würde gern bei diesen Partys mitmachen, hat sie mir jedenfalls erzählt, das dürfe sie  nicht. Ihre Eltern und Brüder sind dagegen, weil ihr Glaube das wohl verbietet. Also wird sie einfach von meinen Mitschülerinnen links liegen gelassen. Keiner redet mehr mit ihr oder hilft ihr oder nimmt sie zu anderen Veranstaltungen mit. Und sie wehrt sich, indem sie ihren Schleier tiefer zieht und ankündigt, demnächst mit einer Burka anzutanzen. Einen Raum in der Schule fordert sie, in dem sie ungestört beten kann! Sie reißt sich damit  weiter ins Abseits. Sie will uns damit klarmachen, wie oberflächlich wir Christen unseren Glauben leben, also uns in ihren Augen wie Ungläubige verhalten, und damit total wertlos seien. Ist zwar dick aufgetragen, könnte  im Ansatz stimmen: Wer interessiert sich denn wirklich für den Sinn  kirchlich-christlicher Feste? Weihnachten? Ostern? Pfingsten? Die meisten wissen doch gar nicht, warum wir sie feiern. Und wer geht überhaupt  in die Kirche? Da sitzen nur die alten Omis. Wenn  Papst Benedetto kommt oder jetzt Franziskus, dann tanzt die Jugend an. Um’n riesen Event zu machen. An die Lehre der Kirche hält sich doch keiner. Jeder macht das, was er will oder tritt aus der Kirche aus!“  

 

Alex hörte ihr schweigend zu. Wie klug sie ist, dachte er. Worüber sie sich Gedanken macht. Toll.

 

 Die Aisha“, begann er, „hat‘s wahrscheinlich besonders schwer. Einerseits ist sie gläubige Muslime, denkt  nicht so fanatisch wie die Salafisten. Sie steckt nicht nur zwischen zwei Stühlen, sondern zwischen dreien: Einerseits möchte sie eine westlich-orientierte Muslime sein, die in Deutschland lebt und unser Grundgesetz anerkennt. Andererseits fordern viele fundamentalistisch-orientierte Muslime ein striktes Leben nach den patriarchalischen Gesetzen der Scharia, die mit unserem Grundgesetz nicht in Einklang zu bringen sind. Sie sieht, wie frei wir sind, wie aufgeschlossen  wir eingestellt sind. Unsere Toleranz werten sie als Schwäche! So genau blicke ich zwar nicht durch. Ich finde jedenfalls die menschenverachtenden Einstellungen den Frauen gegenüber unerträglich!“

 

In der Ferne sahen sie verspätete Feuerwerkskörper in den Himmel schießen, die sich zu großen, strahlenden Pilzen entfalteten und zurück zur Erde fielen.

 

„Besonders die Beschneidung von Mädchen finde ich abartig“, empörte sich Kati, „nur um ihre Lust am Sex zu verhindern! Ist das nicht grauenhaft?“ Sie blickte Alex tief in die Augen.

"Ich verstehe wirklich nicht, wie man so Grauenhaftes den Frauen antun kann. Warum wehren die sich nicht?"

"Sie müssen eben gehorchen!"

„Die Juden beschneiden neugeborene Jungs. Das ist auch so'ne Sache! Aus religiösen Anschauungen! Es ist ja nicht nur eine Form der Körperverletzung, die ein kleiner Junge ertragen muss, es ist auch ein einschneidender Eingriff in die Psyche“, resümierte er, „ manche meinen augenzwinkernd, dass man ohne Vorhaut viel länger könnte, bis man kommt“.

 „Vorhaut?“, fragte Kati nach.

Um ihre Verlegenheit zu überspielen, fuhr er fort: „Bei Frauen will man mit der Klitoris die Lust wegschneiden, bei Männern die Lust verlängern. Und das alles unter religiösen Aspekten, ich weiß‘ nicht?!“

Kati verstand nur die Hälfte. Sie hatte sich noch nicht einmal getraut, ihr eigenes Geschlechtsteil anzusehen. Klitoris hatte sie in Bio gehört, aber nicht so richtig erfühlt oder betrachtet. Sie wusste auch nicht genau, wozu eine Vorhaut überhaupt notwendig sei und wie sie aussehen würde. Sie wollte sich schlau machen. Wen  konnte sie fragen? Ihre Eltern? Freundinnen? Ihren Bruder? Sie hatte sie zwar nackt gesehen, aber sich nicht getraut, genau hinzusehen. Das tut man ja nicht als Frau, hatte man ihr gesagt. Was lag also näher, als denjenigen zu fragen, der es wissen sollte und zu dem sie sich hingezogen fühlte.

"Ob du es glaubst oder nicht, ich habe noch nie einen Mann nackt gesehen, auch nicht meinen Bruder", flüsterte sie verschämt und schob ihre Hand in die seine.

 

Eine Sternschnuppe fiel aus dem Großen Wagen.

„Hast Du sie gesehen? Wünsch Dir etwas, darfst es nicht verraten!“ Sie lächelte wissend.

  

„Mein Vater“, fuhr er fort, „ erklärt mir die Sternenbilder, wenn wir zu Besuch bei Oma im Junkernholz sind und nachts von einem Hochstand aus den Sternenhimmel betrachten. Es ist dann so friedlich, so unwirklich ruhig. Die Sterne spiegeln sich im Ise-Flüsschen, ab und zu kauzt ein Uhu, in der Ferne bellt ein Hund. Paps steckt sich eine Pfeife an. Der Tabaksqualm steigt in den Nachthimmel. Ich mag diesen Geruch. Wir unterhalten uns über viele Dinge. In Münster haben wir nie Zeit dazu. Mein Papa wird oft nachdenklich und traurig…“ 

Immernoch  lehnten sie am Zaum. Es hatte aufgehört zu nieseln. Sie mochten sich nicht trennen, nicht in dieser vertrauten Stimmung.

 

Alex erzählte mehr von seinem Vater, von dessen Aufgaben als Chirurg und seiner tiefen Traurigkeit, die der Tod seiner Frau Chanda ausgelöst hatte. „Wäre ich nicht geboren worden“, sinnierte Alex, „wäre meine Mama am Leben. Ich bin schuld an ihrem Tod!“

 

Winzige Schmetterlinge wirbelten Kati durch den Bauch, als sie spontan ihre Lippen auf seinen Mund drückte, um ihm zu zeigen, wie traurig sie über den Tod seiner Mutter war und um ihm klar zu machen, dass er eben keine Schuld am Tod seiner Mutter hätte. Diesen Gedanken, diese Empfindung, diesen Selbstvorwurf wollte Kati aus tiefstem Herzen mit ihrem Kuss auslöschen.

Sie spürte seine weichen Lippen, seine salzigen Tränen, seine Arme, die sie festhielten, seinen überrascht-angespannten Körper. Alex blickte erstaunt in ihre Augen, begriff sofort, dass dieser Kuss viel mehr als ein Akt des Mitleids war, nahm ihr Gesicht behutsam in seine Hände und küsste sie zärtlich. Elektrische Ströme jagten durch ihre Körper, als ihre Zungenspitzen sich trafen und behutsam gegeneinander drückten. Alex streichelte ihre Wangen, schob behutsam ihre Kapuze nach hinten, zog neckend ihren Pferdeschwanz in den Nacken, küsste ihre Augen, ihre Nasenspitze, ihr Grübchen am Kinn und ihren schlanken, nach hinten gedehnten Hals. Sie merkte, dass er an ihrem Ohrläppchen zu knabbern begann.

Er schob behutsam seine linke Hand  unter ihre Regenjacke, glitt über ihren Bauch und verharrte wie aus Versehen auf ihrer rechten Brust. Sein Mund suchte ihre Lippen. Vorsichtig fuhr er mit seiner Zunge über ihre Oberlippe, drang vorsichtig zu ihrer Zungenspitze vor und begann gleichzeitig, mit dem Handballen über ihre Rundung zu streicheln.

Ein süßes, völlig unbekanntes Gefühl durchströmte ihren Körper. Katis Brustwarzen wurden wach, sie wuchsen gegen das Bustier, hoben das Polo-Shirt und drückten durch den Pullover gegen seine Handfläche.

Alex Hand zog ihr Unterhemd aus der Hose und glitt vorsichtig tastend über den nackten, angespannten Bauch , streichelte sie, während er sie intensiv küsste.

Kati erwiderte seinen Kuss, drückte ihre Lippen sanft saugend gegen seinen Mund und spürte, wie Alex seinen Unterkörper gegen ihren presste. Etwas Hartes machte sich bemerkbar.

Verwirrt drückte sie ihn von sich und flüsterte: „ Noch nicht, bitte, ich kenne dich zu wenig!“ Sie schaute ihm in die Augen, sah sein stummes Einverständnis und fühlte sich dem Himmel näher. Eigentlich stehe ich mehr auf ältere Jungs, dachte sie, mit ihm kann ich über alles reden, er hört zu, er macht sich Gedanken, er küsst so gut, er nimmt Rücksicht, was will ich mehr...

 

Ihr beider Atem vereinigte sich in dieser mild-feuchten Neujahrsnacht zu einer Wolke und stieg mit ihren Wünschen ins All…

 

 

Über viele SMS nach dieser Neujahrsnacht lernten sich Kati und Alex intensiver kennen. Ihre Sehnsucht nach Nähe stieg von Tag zu Tag; ihre Gespräche am Smartphone wurden ehrlicher und intimer.

 

Als Kati sich schließlich Wochen später traute, ihn per SMS nach der Funktion einer Vorhaut zu fragen, diese Frage sollte ihre tiefe Nähe und ihr Vertrauen zu ihm signalisieren, antwortete er ihr:

„Wenn du mich besuchen kommst, zeige ich sie dir. Und du wirst sehen, welche Vorzüge sie hat!“

Mit dieser Antwort hatte Kati nicht gerechnet. Zudem wusste sie nicht, ob er die tiefergehende Bedeutung ihrer Frage überhaupt begriffen hätte. Trotz ihrer Verunsicherung freute sie sich sehnsüchtig auf ihr Date mit ihm.

 

Beide waren irre gespannt auf das nächste Treffen und die Erfahrungen, die sie machen würden.


 

Lehrerjoker

Lehrer Prange bot den Schülern während einer Mathe-Klassenarbeit die Möglichkeit, ihn um Hilfe zu bitten, wenn sie nicht mehr weiter wussten. Er half ihnen, dafür wurde nur die Hälfte der Punktzahl für die betreffende Aufgabe gewertet.

Das führte dazu, dass die Schüler keine Angst mehr hatten, eine total schlechte Zensur zu bekommen, das wiederum verschaffte Sicherheit und Vertrauen zum Lehrer und zur eigenen Fähigkeit.

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P.Weidlich